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Geschichten und Texte

Das Gleichnis vom verlorenen Vater
Anne-Kathrin Ziegler

Ein kalter Wind pfiff um das Haus. Die Kerze auf dem Tisch flackerte leicht. Vorsichtig stand der alte Mann auf und schloss das Fenster. Dann setzte er sich wieder auf die alte Holzbank. Das Holz knackte während er sich noch mehr von der dampfenden Suppe auf seinen Teller schaufelte. Langsam, schlürfend schob er sich Löffel für Löffel in seinen halb geöffneten Mund. Er atmete schwer. Besorgt blickte seine Frau auf. Sie saß ihm gegenüber, an die Wand gelehnt, Zeitung lesend. Ihr Blick wanderte von seiner zittrigen Hand über sein Kinn zu seinen Augen. Doch er schaute nicht zurück. Das ging jetzt schon ewig so. Jeden Abend saß er so da und jeden Abend wurde es schlimmer. Angefangen hatte es an diesem einen Tag. An diesem einen bestimmten Abend hatte er auf einmal nicht mehr so aufrecht über seinem Teller gesessen. Ganz leicht, kaum merklich hatte er den Kopf nach unten gebeugt. Aber von da an war er mehr und mehr zusammengesunken. Nicht nur körperlich, das spürte sie. Sie hatte sich gedacht, dass es so kommen würde, aber dass es so schlimm werden würde, damit hatte sie nicht gerechnet. Inzwischen schaute er sie ja kaum noch an und miteinander gesprochen hatten sie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Es tat ihr weh. Ihretwegen. Aber vor allem seinetwegen. Es tat weh zu sehen wie er sich quälte, wo er doch so oder so nichts mehr daran ändern konnte. Ihr Sohn war gegangen und er würde nicht wieder kommen. Was hätten sie auch tun sollen? Beide hatten überlegt, hatten ihm zuerst sein Erbe nicht geben wollen. Aber bald war ihnen klar geworden, dass ihr Sohn das nicht akzeptieren würde. Er wollte damals verschwinden und nichts hätte ihn davon abhalten können! Also hatten sie ihn ziehen lassen in die große weite Welt und ihm sein Erbe gegeben. Schweren Herzens.
Er verkraftete es immer noch nicht. Die Sorge um ihren lieben Sohn lastete auf seinen Schultern und drückte ihn zu Boden. Jetzt hatte er den Kopf auf den Tisch gelegt, wahrscheinlich war er eingeschlafen. Müde schloss auch sie die Augen. Sie drückte die selbe Last, doch sie wusste sie zu tragen. Langsam lehnte sie sich zurück. Die Tür öffnete sich einen Spalt, ein Lufthauch fuhr durch das Zimmer, doch die alte Frau war zu müde um noch einmal aufzustehen und die Türe zu schließen. Mit einem Mal fühlte sie sich so alt, so schrecklich alt. Die Kerze flackerte kurz auf und erlosch dann ganz.

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