Der Andere
Anne-Kathrin Ziegler
Die Türklinke in meiner Hand
ist kalt. Ich hätte es wissen müssen. Es mir vorher
besser überlegen sollen! Benjamin steht jetzt vor der Tür.
Lehnt an der Wand, schaut zur Decke. Ich sehe ihn nicht, und dennoch
weiß ich, dass es so ist. Ich kenne ihn. Möchte zu
ihm, ihm helfen. Ihn zu uns, zu den Feiernden holen. So stehe
ich jetzt hier, an der Türklinke. Möchte sie eigentlich
langsam, ganz sachte nach unten drücken. Durch den Türspalt
luken. Doch es hält mich etwas zurück. Etwas in meinem
Inneren. Angst. Angst vor dem was mich erwartet: Weint er ? Höre
ich nicht so etwas hinter der Tür? Nein, er hat nicht mehr
geweint seit er ganz klein war. Damals, mit acht, ist er von der
Schaukel gefallen die zu der Zeit noch in unserem Garten stand.
Und damals hat er geweint. Sehr sogar. Und ich war genervt. Ohne
nachzudenken, habe ich gesagt:„ Ein Junge heult doch nicht.“
Daraufhin hat er nie mehr geweint. Hat immer allen Schmerz hinuntergeschluckt.
Nein, Benjamin weint nicht.
Aber was ist, wenn er enttäuscht von mir ist? Ja mich sogar
gemein findet. Oder mich hasst. Mich so sehr hasst, dass er weggelaufen
ist. Einfach weg. Habe ich ihn so enttäuscht? War ich so
ungerecht? Ich drücke die Türklinke ein Stück.
Doch ich bringe es nicht über mich. Was, wenn er tatsächlich
verschwunden ist? Damit hat er mir häufiger gedroht. Doch
was soll ich ohne ihn machen? Ich hab ihn das oft gefragt. Wahrscheinlich
dachte er, ich brauche ihn als Arbeitskraft. Als williges Arbeitstier.
Ich habe es ihm nie deutlich gesagt. Vielleicht weiß er
gar nicht, dass ich ihn liebe, ihm vertraue. Dass ich für
ihn alles aufgeben würde. Benjamin durfte alles mit mir teilen.
Mein Haus. Mein Land. Mein Essen. Mein Leben. Hat er das nicht
als Lohn gesehen für seine Arbeit?
Nein, nein er hat es nicht so gesehen. Vorhin hat er noch zu mir
gesagt: „Mir hast du nie etwas gegeben. Nicht das kleinste
Etwas.“ Da habe ich ihm entgegengehalten, was er alles bei
mir hatte. Das hätte ich nicht tun sollen. Eigentlich wusste
ich, dass er es nie so empfunden hat. Aber ich habe es immer verdrängt.
Und jetzt ist er weg. Alles ist meine Schuld. Er hatte vollkommen
recht.
Ich habe nicht das Gefühl mich jemals wieder freuen zu können.
Mit den anderen feiern zu können. Kaum ist der Eine da, verschwindet
der Andere. Er ist davongelaufen. Das Geräusch vorhin kam
von der ins Schloss fallenden Tür. Noch könnte ich ihm
hinterherlaufen. Ihn einholen. In meine Arme schließen.
Aber das mag er nicht. Das hat er nicht gern. Benjamin möchte
Lohn und nicht Liebe. Das ist genau das was uns unterscheidet.
Weshalb ich eigentlich noch nie mit ihm klar kam. Ja, so ist es
wohl schon seit Ewigkeiten, nur, dass ich es nie einsehen wollte.
Für mich ist Liebe etwas Entscheidendes, für ihn etwas
Nebensächliches. Aber warum? Weiß er gar nicht was
Liebe ist? Habe ich ihn nie richtig geliebt? Ja, genau das ist
es. Ich kam nicht mit ihm klar! Darum ist er weggelaufen. Jetzt
ist alles zu spät. Zu spät um etwas rückgängig
zu machen. Ich habe gezögert. Zu lange gezögert. Benjamin
ist in die weite Welt gelaufen. Genau wie sein Bruder. Eigentlich.
Nur eben ohne Erbe. Noch nicht einmal das habe ich ihm gegeben.
Ich war wirklich so ungerecht zu ihm. Die Türklinke in meiner
Hand ist warm. Ich habe versagt! Dennoch drücke ich sie langsam
nach unten. Wie von einer unsichtbaren Gewalt gezogen. Öffne
sie. Blicke in seine Augen. Er umarmt mich, hält mich fest.
Und ich weiß: Ich habe die Türklinke nicht gedrückt.
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